Zweierlei Maß für Europas Kraftfahrer.
Dass sich die EU auf dem Weg zur politischen Einheit auch eine gemeinsame Rechtsordnung geben muss, ist inzwischen wohl mehrheitlich als Prämisse anerkannt. Zumindest über den Weg dort hin sind die Meinungen geteilt. In Anbetracht der enormen Größe des Vorhabens und der Vielzahl der berührten Interessen ist das nicht anders zu erwarten. Und selten hat es geschadet, wenn eine Entscheidung ausführlich beraten wurde. Schaden nimmt das Projekt eher, wenn jene, auf deren Leben durch die zu schaffenden Regeln Einfluss genommen wird, das Gefühl beschleicht, ungerecht behandelt zu werden. Das kann schon mal vorkommen, wenn die Entscheidungsträger mit zweierlei Maß messen.
Der griechische Philosoph Platon hat „vorgespielte Gerechtigkeit“ als die schlimmste Art von Ungerechtigkeit ausgemacht. Was hätte er wohl dazu gesagt:
Bereits seit Ende 2010 ist ein Vollstreckungsabkommen in Kraft, welches die grenzüberschreitende Vollstreckung von Bußgeldern ermöglicht. Für die meisten Leser meines Blogs nichts Neues. Ohne auch nur die geringste Vorstellung davon zu haben, wie es überhaupt zu den Vorwürfen kommt, deretwegen Geldbußen verhängt wurden, soll der Mitgliedsstaat, in dem der Betroffene seinen Wohnsitz hat, gegen ihn vollstrecken dürfen. Mit dem Einwand, er habe die Ordnungswidrigkeit gar nicht begangen und habe keine Gelegenheit gehabt, sich gegen den Vorwurf zu verteidigen, wird er nicht gehört. Fragen nach beispielsweise der ordnungsgemäßen Bedinung eines Radargerätes, mit dem eine Geschwindigkeitsmessung durchgeführt wurde, oder dessen gültige Eichung interessieren dann nicht mehr. Begründet wird das Abkommen damit, dass die vorbehaltlose Anerkennung von gerichtlichen und behördlichen Entscheidungen der EU-Mitgliedsstaaten untereinander zur Schaffung eines einheitlichen Rechtsraums beitragen soll.
Ärgerlich genug das Ganze. Wenn das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung dann wenigstens ohne Einschränkungen durchgehalten werden würde. Aber weit gefehlt, wie die neueste Entwicklung des Rechts in Sachen des sogenannten Führerscheintourismus zeigt. Noch die zweite Führerschein-Richtlinie der EU hatte unter bestimmten Umständen eine Anerkennungspflicht betreffend sämtlicher aus EU-Mitgliedsstaaten stammenden Fahrerlaubnissen postuliert.
Nach dem Willen des Generalanwalts Yves Bot soll diese Richtlinie und die dazu entwickelte Rechtsprechung nicht mehr angewandt werden, um den Auswirkungen des sogenannten Führerscheintourismus zu begegnen. Das angeblich so wichtige Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, wonach die in Mitgliedsstaaten ordnungsgemäß erteilten Fahrerlaubnisse anzuerkennen sind, solange eine Verletzung des nationalen Rechts des Ausstellerstaates nicht festzustellen ist, soll keine Beachtung mehr finden.
Was auf dem einen Rechtsgebiet als Heilsversprechen gilt, wird auf dem anderen Rechtsgebiet wie ein peinlicher Irrtum behandelt.