Schwuchtel ja, vielleicht auch schwul, aber bestimmt nicht homosexuell
Wenn vom sogenannten Grundwortschatz die Rede ist, sind jene Worte einer Sprache gemeint, die als erforderlich erachtet werden, um 85% aller eben in dieser Sprache verfassten Texte verstehen zu können. Verstehen, was heißt das schon? Lediglich die Kenntnis von der Bedeutung eines Begriffs oder kommt es zum richtigen Verständnis nicht auch auf die Wirkung an, die der Begriff auf seinen Adressaten haben könnte? Womöglich weil dieser sich in seiner Ehre verletzt fühlt. Und ist das dann auch gleich ein Fall für den Staatsanwalt?
Was sich beispielsweise Polizeibeamte tagtäglich während ihres Dienstes so anhören müssen, ist sicherlich nicht immer schön und wohl auch geeignet, die Freude an der Berufsausübung zu trüben. Ob es nun daran liegt, dass die Nerven häufiger mal blank liegen, oder in eigenen Angelegenheit der Verfolgungseifer mancher Ordnungshüter stärker ausgebildet ist, wird nicht mit letzter Sicherheit zu beantworten sein. Dass aber bisweilen Äußerungen des sogenannten polizeilichen Gegenüber zur Anzeige gebracht und Strafantrag wegen Beleidigung gestellt wird, die auf den distanzierten Beobachter eher harmlos wirken, wird nicht zu bestreiten sein. Bekanntermaßen wird ja bereits das formlose Du, als Angriff auf die Ehre eines Uniformträgers bewertet.
Dass hingegen ein sich wegen der Verwendung des Begriffs „Oberförster“ grämender Polizeimeister keinen objektiven Grund, hat sich beleidigt zu fühlen, war an dieser Stelle bereits nachzulesen. Aber wie sieht es aus, wenn ihm seine vermeintliche sexuelle Ausrichtung vorgehalten wird? Handelt es dabei um einen strafbaren Angriff auf die Ehre des Beamten? Mit dieser Frage hatte sich das Landgericht Tübingen zu beschäftigen. Konkret war Folgendes passiert:
Als Verdächtiger einer Trunkenheitsfahrt war der später wegen des Vorwurfs der Beleidigung Angeklagte in polizeilichen Gewahrsam geraten, um ihm eine Blutprobe abzunehmen. Erbost über die Einschränkung seiner persönlichen Freiheit, und um seine Mißachtung gegenüber den ihm die Freiheit entziehenden Polizisten zum Ausdruck zu bringen, betitelte er selbige als „Homosexuelle“. Die vermutlich durch und durch heterosexuellen Staatsdiener fühlten sich nicht nur brüskiert sondern auch beleidigt und brachten den Vorfall zu Anzeige. Wie häufig in solchen Fällen stellte der Dienstvorgesetzte ausdrücklich Strafantrag. Und während Otto Normalbürger in aller Regel die Erfahrung macht, dass die Justiz an der Verfolgung von Beleidigungen, die dem nicht Uniform tragenden Bürger widerfahren, keinerlei Interesse hegt, sondern den Anzeigenerstatter auf den sogenannten Privatklageweg verweist, erhob die Staatsanwaltschaft Tübingen im Fall unserer in ihrer Ehre gekränkten Ordnungshüter Anklage. Und das örtlich zuständige Amtsgericht verurteilte auch prompt.
Und somit war es das in der Berufung zuständige Landgericht Tübingen, das den eingeschnappten Polizeibeamten, ihren Dienstvorgesetzten, der verfolgungseifrigen Staatsanwaltschaft und letztlich auch dem desorientierten Amtsrichter Grundsätzliches zu erklären hatte:
1. Tatbestandliche Beleidigung im Sinne des § 185 StGB ist die Kundgabe eigener Missachtung.
2. Erfolgt sie gegenüber dem Betroffenen, kann dies in Gestalt eines Werturteils oder in Gestalt einer ehrenrührigen Tatsachenbehauptung geschehen.
3. Ob die Aussage einen die Ehre angreifenden Sinn hat, ist objektiv zu ermitteln. Darauf, dass der Äußernde subjektiv beleidigen wollte, oder der Empfänger sich subjektiv gekränkt fühlt, kommt es nicht an. Vielmehr muss die Äußerung unter Beachtung der Wertungen der Rechtsordnung bewertet werden.
In einer Rechtsordnung aber, die ein Antidiskriminierungsgesetz kennt, dessen § 1 die gesetzgeberische Intention offenlegt, Benachteiligungen unter anderem aus Gründen der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen, kann dem Begriff „Homosexueller“ keine ehrverletzende Wirkung zugeschrieben werden. Das Landgericht hat das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und den Angeklagten freigesprochen.